Der Herrgott hat sich schleichen g’macht.

Ein metaphysischer Fall in Moll.

Ich war in Wien, wo sogar die Tauben grantig sind und selbst die Schatten Kaffeehausbesucher beleidigen.

Mein Büro lag überm Café Hawelka. Draußen schlich der Nebel über die Pflastersteine, als würde er nach seinem verlorenen Glauben suchen.

Ich war grad dabei, meinen dritten Mokka zu vergiften – mit einem Schuss Inländer-Rum und einer Prise Weltschmerz – da trat Hochwürden Dostal ein.

Ein Jesuit, wie er im Buche steht: schwarzer Talar, grauer Blick, und Sorgenfalten, die nur jemand hat, der zu lange mit Gott telefoniert und immer nur den Anrufbeantworter erreicht.

„Herr Marlowe“, sagte er mit einer Stimme, die wie ein verregneter Friedhof klang,

„der Herrgott is‘ weg.“

Ich runzelte die Stirn. „Im Sinne von Urlaub? Oder endgültig?“

„Er hat sich davongeschlichen. Seit Wochen kein Zeichen, kein Wunder, nicht einmal ein g’scheiter Blutfleck auf einer Hostie. Nur… Stille.“

Ich nahm einen Schluck Mokka, dann einen aus der Flasche.

„Also wie die Österreichische Post. Nur schlimmer.“

Ich begann zu ermitteln.

Zuerst in der Votivkirche. Nichts als kalter Stein, verirrte Touristen und eine Hostie, die nach Karton schmeckte.

Dann zur Karlskirche. Der Mesner wollte mir ein Red Bull verkaufen und sagte, Gott sei vielleicht nach Bratislava geflüchtet, weil dort die Beichte steuerlich absetzbar sei.

Ich machte mir Notizen:

Antigottesbeweis Nr. 2:

Ein allgegenwärtiger Gott würde niemals Wien verlassen.

Niemand mit Geschmack tut das.

Ergo: Es gibt keinen Gott. Oder er ist Preuße.

Ich suchte weiter. Im Café Central versuchte ich, Gott durch eine besonders leidenschaftliche Sachertorte herbeizurufen. Ergebnislos.

Im Prater sprach ich mit einem Betrunkenen auf dem Riesenrad. Er behauptete, Gott hätte sich in einen Fiaker verliebt und wäre jetzt undercover in Favoriten.

Dann fand ich den Hinweis.

Eine Bierdeckelnotiz im Beichtstuhl der Peterskirche:

„Bin müd. Lass’s euch selber richten.

– G“

Ich war erschüttert. Nicht über den Inhalt – das war typisch für Wien –

sondern über die Schrift: es war eindeutig dieselbe Handschrift wie auf dem Zettel, den ich einst im Café Demel gefunden hatte, auf dem stand:

„Glauben ist a Gaudi, aber irgendwann is’ Schluss.“

Ich traf Hochwürden Dostal ein letztes Mal am Donaukanal.

Es regnete Schnitzel, metaphorisch gesprochen.

Ich reichte ihm meinen Abschlussbericht.

„Es gibt keinen Gott“, sagte ich.

„Zumindest keinen, der in Wien bleiben will. Offenbar hält er’s nicht einmal im 1. Bezirk aus.“

Dostal schwieg. Dann sagte er:

„Vielleicht is’ er eh noch da. Nur halt… inkognito.“

Ich zündete mir eine an.

„Das wär das Wienigste, was er machen könnt. Uns im Stich lassen – aber dabei in der Nähe bleiben.“

Wir schauten in den Nebel.

Dann gingen wir jeder in eine andere Richtung.

Der Fall war gelöst.

Oder auch nicht.

In Wien ist das dasselbe.

„A batzerl Himmlisches.“

Ein gefallener Engel, ein Prater und eine Melange mit metaphysischem Nachgeschmack.

Ich dachte, ich hätte schon alles gesehen.

Messdiener auf LSD.

Eine Hostie mit Schimmel.

Einen Kardinal, der heimlich Radio Maria rückwärts hörte.

Aber ein Engel,

betrunken,

auf einem Autodrom im Wiener Prater?

Das war selbst für mich neu.

Der Anruf kam um kurz nach Mitternacht.

Ein Informant aus dem Café Sperl.

Seine Stimme schwankte wie ein betagter Walzer:

„Du, Marlowe… i schwör bei da heiligen Kuttl, da sitzt a Typ im Prater, mit Flügerln. Hat drei Spritzer intus und rammt Kinderautos. Ununterbrochen. Und – des musst hör’n – er singt ‘Es wird scho glei dumpa’. Rückwärts.“

Ich zog mir den Mantel über, ließ den Kaffee stehen, den Schnaps nicht, und fuhr los.

Im Prater war alles wie immer.

Kunstlicht, Kitsch und der süßlich-depressive Geruch von gebrannten Mandeln und menschlicher Resignation.

Dann sah ich ihn.

Silberne Flügel.

Zerzaustes Haar.

Ein Heiligenschein, der flackerte wie eine schlechte Neonröhre.

Und ein Gesichtsausdruck wie ein Erzengel nach dem dritten Beichtstuhlverhör.

Er rammte ein Kinderauto, das aussah wie ein Pandabär.

Dann rief er:

„Ich bin Gabriel, du G’sichtswurst!“

Ich näherte mich vorsichtig.

„Herr… Gabriel? Alles in Ordnung?“

Er hielt inne, blinzelte mich an, schnupperte.

„Du riechst nach Erkenntnis… und Mokka.“

Ich nickte.

„Kommt vom Beruf.“

Wir setzten uns auf eine Bank bei der Geisterbahn.

Er kippte sich einen Mini aus dem Mantelärmel.

Ich wartete. Irgendwann sprach er:

„Weißt du, Marlowe… der Himmel ist a bürokratischer Sauhaufen. Seit der Allmacht-Delegation an die freie Schöpfung geht nix weiter. Und die ganze Gnade – nur noch digital. Sündenscan per Augenkontakt. Kein Herz mehr drin.“

Ich zog den Block raus.

Metaphysischer Hinweis Nr. 1:

Selbst Engel kündigen in Wien.

Warum sollte der Chef bleiben?

Ich fragte ihn, warum er herkam.

Er zeigte auf das Autodrom.

„Weil’s der einzige Ort ist, wo’s erlaubt ist, andere zu rammen, ohne gleich in die Hölle zu fliegen.“

Er lächelte wehmütig.

„Und weil hier niemand fragt, warum du Flügel hast. Die halten dich höchstens für ein DJ-Outfit.“

Er legte eine Melange auf die Bank. Keine Ahnung, woher. Wahrscheinlich aus dem Jenseits.

„Nimm. Die Milch is von einer seliggesprochenen Kuh. Schmeckt nach Sünde, aber sanft.“

Ich trank. Und spürte es:

Ein Funken Trost. Ein Hauch von Ewigkeit. Und dann – Magenschmerzen.

Vielleicht war die Kuh noch nicht ganz durch den Seligsprechungsprozess.

Bevor ich fragen konnte, ob er bleiben würde, stand Gabriel auf.

„Sag ihnen, sie sollen weniger beten und mehr tanzen. Weniger dogmen – mehr Donauwalzer.“

Dann breitete er seine Flügel aus, schwebte kurz, fiel fast, fing sich wieder und landete auf dem Riesenrad.

Dort oben blieb er.

Trank.

Sang.

Und beobachtete Wien.

Fall abgeschlossen?

Nein.

Nur verschoben.

Auf unbestimmt himmlisch.

„Die Offenbarung nach Ottakringer.“

Ein Engel, ein Beisl, und der letzte Versuch, Wien zu erlösen.

Es war ein Dienstag, aber er fühlte sich an wie ein verkatertes Sonntagsevangelium.

Ich trieb mich am Gürtel herum, da, wo die Hoffnung heimlich das Bundesland wechselt.

Der Regen fiel senkrecht, als hätte der Himmel selbst keine Geduld mehr.

Das Beisl hieß „Zum Letzten Gericht“.

Ein verrauchter Würfel irgendwo zwischen der U6 und dem Fegefeuer.

Drinnen: Blechmusik, Darts, und das leise Fluchen vergessener Gottheiten.

Und er war wieder da.

Gabriel.

Der gefallene Engel.

Diesmal ohne Heiligenschein, aber mit einem weißen Kittel und einer Hopfennote, die selbst die Totenauferstehung verhindern würde.

„Ich braue jetzt“, sagte er, ohne aufzuschauen.

„Reinheitsgebot war gestern. Das hier ist ein göttliches Rezept.“

Ich setzte mich.

Er stellte mir ein Glas hin. Trüb.

Es roch nach Weihrauch, Marillenbrand und latenter Sühne.

„Wie heißt das Zeug?“

Er lächelte schief.

„Apokalager. Ein Bier so heilig, dass man danach bereut, dass man’s nicht früher getrunken hat.“

Ich nahm einen Schluck.

Die Welt wurde warm, leicht schief, und für einen Moment glaubte ich, die Dreifaltigkeit würde in der Ecke Schnaps würfeln.

Gabriel kramte ein zerfleddertes Notizbuch hervor.

„Ich schreibe eine neue Offenbarung. Die alte war zu dramatisch. Feuer, Pferde, Trompeten – wer hält das heute noch aus?“

Ich las.

Kapitelüberschrift:

Die Offenbarung nach Ottakringer, Kapitel 1

Und siehe: ein Engel mit Promillestand 1,2 trat in ein Beisl und sprach: „Trinket alle daraus, denn das ist mein letztes Bier.“

Ich fragte ihn, ob das nicht zu viel sei.

Er schüttelte den Kopf.

„Zu wenig. Die Menschheit braucht keine Erlösung. Sie braucht eine g’scheite Jause und einen verständlichen Gott.“

Er erzählte mir, dass er versucht hatte, Petrus zum Hopfenanbau zu überreden.

„Er hat Nein gesagt. Der Himmel ist jetzt glutenfrei.“

Ich notierte:

Theologischer Zwischenstand:

Wenn selbst Engel Bier brauen müssen, um gehört zu werden –

ist entweder der Himmel leer,

oder Gott hat einen Franchisevertrag mit Ottakringer.

Später in der Nacht hielt Gabriel eine improvisierte Messe.

Er hob sein Bier.

„Im Namen des Vaters, des Sohnes und der feinen Hefe. Amen.“

Die Stammgäste nickten andächtig.

Einer weinte.

Ein anderer fragte, ob das Bier vegan sei.

Dann verschwand Gabriel wieder – diesmal durch die Hintertür in Richtung Gürtel.

Vielleicht nach Simmering.

Vielleicht zurück in den Himmel.

Oder einfach nur auf ein Leberkässemmerl.

Ich blieb noch eine Weile.

Trank den Rest.

Und verstand:

Nicht jede Offenbarung kommt mit Feuer.

Manche kommen mit Schaumkrone.

„Psalmen aus dem Off.“

Ein Engel beim Poetry Slam. Oder: Wie Gabriel versuchte, Wien mit dem Vaterunser zu retten.

Ich hatte ihn fast vergessen.

Gabriel, der biergewordene Erlöser, war seit Wochen verschwunden.

Keine Sichtung. Keine Spur. Kein schief gesungenes Kirchenlied beim Würstelstand.

Bis ich an einem Freitagabend in das Museumsquartier schlenderte.

Es war einer dieser Abende, an dem die Luft nach synthetischem Patchouli und postmoderner Verzweiflung roch.

Ein Poetry Slam war im Gange.

Der Titel: „Slammen gegen das Vergessen. Oder für irgendwas Spirituelles halt.“

Ich bestellte ein Gin-Tonic mit Basilikum (das war dort das billigste).

Dann hörte ich plötzlich eine Stimme.

Verwaschen, rau, und irgendwie himmlisch falsch getaktet.

Gabriel stand auf der Bühne.

Silberne Flügel – leicht zerknittert.

Ein Mikrofon in der einen Hand.

Ein Bier in der anderen.

Er nickte ins Publikum, als hätte er kurz überlegt, uns alle zu erlösen –

und sich dann doch fürs Vortragen entschieden.

Er begann:

Vater unser, der du chillst im Himmel,

geheiligt werde dein WLAN,

dein Kiez komme,

dein Schnitzel geschehe,

wie oben in Döbling,

so unten in Simmering.

Unser tägliches Bier gib uns heute,

und vergib uns unsere Ironie,

wie auch wir vergeben den Kunststudent:innen,

die nicht wissen, was sie tun,

und führe uns nicht in die Galerie,

sondern erlöse uns von der Kultursteuer.

Denn dein ist der Würstelstand

und die Melange

und die grantige Ewigkeit.

Oida.

Stille.

Dann Applaus.

Zögernd zuerst –

dann mit einem leisen Halleluja aus der letzten Reihe (möglicherweise von einem Theologie-Studenten, der gerade sein Leben umdachte).

Ich traf Gabriel nachher draußen bei den Raucher:innen.

Er paffte eine Zigarette mit Vanillearoma.

Er wirkte erschöpft.

„Glaubst, das hat wen erreicht?“, fragte er.

Ich zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht. Aber in Wien braucht selbst der Heilige Geist eine Anmeldung beim Magistrat.“

Gabriel nickte.

„Ich überleg, ob ich einen Podcast mache. ‘Engel unter Menschen’. Mit Gastbeiträgen von Maria und der Hölle.“

Ich sah ihn an.

„Maria? Die Maria?“

Er grinste.

„Ja. Aber sie macht nur was, wenn es Fördergeld gibt.“

Er ging dann. Wieder einmal.

Langsam.

Richtung Volkstheater.

Oder vielleicht einfach dorthin, wo noch eine Bühne frei ist.

Mit Mikrofon, Bier – und einer kleinen Chance, dass jemand zuhört.